GESCHICHTE

See der Angst

Von Stockinger, Günther

Jahrhundertelang machten muslimische Sklavenjäger im Mittelmeer Jagd auf Christen. Über eine Million Opfer, hat jetzt ein US-Historiker enthüllt, landeten auf den Märkten Nordafrikas.

Im Schutz der Dunkelheit pirschten sich die Jäger lautlos heran. Unter Schlägen wurden die Bewohner der Siedlungen zusammengetrieben und an Bord der vor der Küste wartenden Schiffe gebracht.

Meist war der Spuk so schnell zu Ende, wie er begonnen hatte. Unter Deck kauerten die Gefangenen wimmernd in dunklen Verschlägen; an Land bellten, nachdem die Schreie der Überrumpelten verstummt waren, nur noch die Hunde.

Von 1500 nach Christus bis weit ins 18. Jahrhundert war das Mittelmeer für die christlichen Anrainerstaaten eine See der Angst. Muslimische Sklavenjäger von der nordafrikanischen Küste durchpflügten auf der Suche nach Christenbeute das Meer. Die Bewohner küstennaher Siedlungen Italiens, Frankreichs und Spaniens endeten zu Tausenden in der Gefangenschaft.

Bauern und Landarbeiter verschwanden von ihren Feldern. Fischern wurde das Auswerfen der Netze zum Verhängnis. Auf vielen Mittelmeerinseln prägte der bange Blick zum Horizont jahrhundertelang das Leben der Bewohner.

Selbst an vielen Gestaden des Atlantiks war es mit der Sicherheit vorbei. Die nordafrikanischen Korsaren trieben ihr Unwesen vor Portugal, an der Kanalküste und in der Irischen See. 1627 verschleppten die Sklavenjäger sogar 400 Isländer, die sich in ihrer kalten Heimat weitab von jeder Gefahr gewähnt hatten.

Die Historiker haben sich mit den Dimensionen des mediterranen Sklavenhandels bisher kaum beschäftigt. Verlässliche Opferzahlen fehlten. Das düstere Kapitel der Mittelmeergeschichte geriet in Vergessenheit, weil durch die europäische Großmacht- und Kolonialpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts aus den ehemaligen Opfern Täter geworden waren.

Schätzungen über die Zahl der in Gefangenschaft Geratenen fielen deshalb eher zurückhaltend aus: Insgesamt nur ein paar tausend Menschen, so vermuteten die Experten, seien den muslimischen Sklavenhändlern in die Hände gefallen.

Erst jetzt hat ein US-Historiker das Ausmaß der Menschenjagd im Mittelmeer gründlich erforscht. "Vieles von dem, was bisher geschrieben wurde, vermittelt den Eindruck, als wäre das Problem für Europa nicht bedeutend gewesen", erklärt Robert Davis von der Ohio State University**: "Doch das ist ein Irrtum."

Davis sichtete Quellen, die den Menschenhandel in den Korsarenhochburgen Algier, Tunis und Tripolis dokumentieren. Er ermittelte die Zahl der in den muslimischen Mittelmeerhäfen jährlich durch Tod, Flucht oder Lösegeldzahlungen ausfallenden Zwangsarbeiter, die durch neue Menschenware ersetzt werden mussten, und errechnete auf dieser Grundlage die Zahl der Gesamtopfer.

Sein überraschendes Ergebnis: Zwischen 1530 und 1780 landeten "fast sicher eine Million und ziemlich wahrscheinlich bis zu 1,25 Millionen" weiße christliche Gefangene auf den Sklavenmärkten Nordafrikas - kahl geschoren und in Eisen geschmiedet.

Allein zwischen 1530 und 1580 erbeuteten die Korsaren von Algier 300 000 europäische Sklaven. Davis: "Wir haben das Gefühl dafür verloren, wie groß die Bedrohung für diejenigen war, die um das Mittelmeer herum lebten." In den Sklavenhändler-Metropolen entwickelte sich die Christenjagd in dieser Zeit zu einer wahren Industrie. Nach groß angelegten Fangaktionen mit Dutzenden von Galeeren und Tausenden von Bewaffneten "regnete es Christen in Algier", wie Zeitgenossen notierten. Erfolgreiche Korsarenka-pitäne führten ihre mit Stricken aneinander gebundene Beute in einer Art Triumphzug durch die Stadt.

Die meisten der Opfer waren Männer. Doch nach erfolgreichen Überfällen auf Städte und Dörfer überschwemmten auch weibliche Gefangene und Kinder die Sklavenmärkte.

Ab Mitte des 17. Jahrhunderts, als die mediterranen Küsten besser bewacht wurden, änderten die muslimischen Menschenjäger ihre Taktik. Statt groß angelegter Überfälle verlegten sie sich auf Nadelstiche - gepaart mit List und Tücke: Sie erkundeten Küstenabschnitte mit erbeuteten Fischerbooten oder näherten sich dem Festland mit falschen Abzeichen und Flaggen. Um Warnrufe zu verhindern, wurden die christlichen Ruderer an Bord der Freibeutergaleeren mit einem Stück Kork geknebelt, das sie ständig wie ein Reliquiensäckchen um den Hals tragen mussten.

Auch auf hoher See waren die muslimischen Piraten Meister der Hinterlist: Sie schickten europäisch gekleidete Konvertiten als Lockvögel über Deck, takelten erbeutete Christenschiffe für die Sklavenjagd um und tauchten auch außerhalb jener Jahreszeiten auf, die als Hochsaison der Sklavenfänger galten. "Der Beute aufzulauern - hinter einer Insel oder einem Felsenvorsprung, in einer Nebelbank oder im ersten Tageslicht - war eine Lieblingstaktik der Korsaren", berichtet Davis.

Frankreich und Spanien verloren durch die Kaperfahrten Tausende von Schiffen. Die mächtige Royal Navy musste allein zwischen 1606 und 1609 den Verlust von 466 englischen und schottischen Seefahrzeugen einräumen. Auch die hochgerüsteten Galeeren der Malteser Ritter waren vor den Verwegensten unter den Hochseejägern nicht sicher.

Für die Korsarenkapitäne in Algier oder Tunis war es nicht schwer, Besatzungen für ihre Raubzüge zu rekrutieren: Statt mit Heuer lockten sie die Mannschaften mit einem Anteil an der Beute. Selbst die Rudersklaven waren, wenn auch in äußerst bescheidenem Maße, am Gewinn der Unternehmen beteiligt - in manchen Fällen reichte die Summe für die Opfer nach jahrelanger Quälerei, um sich aus der Gefangenschaft freizukaufen.

Auf die im Bauch der Schiffe eingepferchten Gefangenen wartete in den Korsarenhäfen ein ungewisses Schicksal. Wohlsituierte unter den Passagieren, die reiches Lösegeld versprachen, wurden von Spekulanten ersteigert, die ihr Geld wie moderne Aktienkäufer in viel versprechende Titel investierten. Die restlichen Gefangenen endeten als Arbeitskräfte in privaten Haushalten oder mussten als öffentliche Sklaven beim Straßenbau, in der Landwirtschaft oder in Salzminen schuften.

Unweit von Algier etwa, so fand der US-Forscher heraus, schleppten Hunderte christlicher Sklaven 20 bis 40 Tonnen schwere Steinblöcke auf Schlitten aus Steinbrüchen in die zwei Meilen entfernte Stadt, um damit dort Molen zu befestigen oder Verteidigungsanlagen zu erneuern. Auch das Holz für den Bau neuer Piratenschiffe musste im Umland geschlagen und zu den Werften transportiert werden. Die körperliche Schwerstarbeit dauerte von Sonnenaufgang bis kurz vor Sonnenuntergang: Das Los der meisten Christensklaven, so Davis, sei ebenso hart gewesen wie später das ihrer schwarzen Leidensgenossen in Amerika.

Die Unglücklichsten unter den Opfern fanden sich auf den Ruderbänken der Freibeutergaleeren wieder. Nur mit einem Lendenschurz bekleidet, waren sie den Schlägen

der Aufseher und der Hitze schutzlos preisgegeben. Vielen der schwimmenden Gefängnisse eilte ein bestialischer Gestank voraus, weil die an Händen und Füßen angeketteten Gefangenen ihre Notdurft bei Verfolgungsjagden an Ort und Stelle verrichten mussten. Wegen des Schlafentzugs bei den oft wochenlangen Raubfahrten befanden sich die Ruderer fast ständig am Rande des Deliriums.

Manche der gefangenen Christen konvertierten zum Islam, um dadurch ihr Schicksal zu erleichtern. Die so genannten Renegaten mussten nicht mehr auf die Galeeren oder in die Steinbrüche; dennoch blieben auch sie danach noch Sklaven. Am besten trafen es in Gefangenschaft geratene Schiffszimmerleute - vor allem ab dem 17. Jahrhundert, als die Sklavenjäger technische Neuerungen der christlichen Werften kopieren mussten, um mit den Schiffen ihrer Gegner weiter mithalten zu können.

Die Mortalitätsrate der Christensklaven in den nordafrikanischen Häfen betrug jährlich annähernd 20 Prozent; bei Frauen, Kindern und Alten lag sie nach Schätzungen von Davis sogar noch höher. Wer nicht wegen der schlechten Ernährung oder der harten Arbeit starb, fiel nicht selten den wiederholt über die Sklavenhäfen hereinbrechenden Pestepidemien zum Opfer. Von den 400 nach Algier verschleppten Isländern beispielsweise lebten nach achtjähriger Gefangenschaft noch gut fünf Dutzend.

Erst im 18. Jahrhundert wurden die Bemühungen der europäischen Staaten und christlicher Orden erfolgreicher, Sklaven aus den Arbeitslagern der Muslime freizukaufen. Bis dahin, so der US-Forscher, war "die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass die Opfer in der Gefangenschaft umkamen, als dass sie in die Heimat entlassen wurden".

In den nordafrikanischen Städten hat der jahrhundertelange Menschenhandel nur wenig Spuren hinterlassen. Von den Sklavenmärkten und Gefangenenlagern existieren, außer in Marokko, keine Überreste mehr. So gut wie nichts erinnert an die Hunderttausenden von Europäern, die in den einstigen Freibeutermetropolen ihr Leben fristeten und nach dem Tod auf Friedhöfen außerhalb der Stadt in anonymen Gräbern verscharrt wurden.

Nur eine Hinterlassenschaft der Opfer blieb erhalten: Schon im 18. Jahrhundert wunderten sich Reisende, die nach Algier kamen, über die helle Hautfarbe vieler Stadtbewohner.

Generationen weißhäutiger Christensklavinnen hatten ihren muslimischen Besitzern über Jahrhunderte hinweg Kinder zur Welt gebracht; und Tausende von konvertierten Gefangenen hatten mit einheimischen Frauen Nachkommen gezeugt.

Beides zusammen, so Davis, habe "eine Menge europäisches Blut in den lokalen Genpool gespült". GÜNTHER STOCKINGER

Quelle

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